Vom Werte der Sätze

Schöner Gefühle mit heiliger Hand
nähren sie wachsam das ewige Feuer.
Und in der Grazie züchtigem Schleier
flechten der Liebe beglückendes Band
himmlische Rosen ins irdische Leben.
Ehret die Frauen! Sie flechten und weben.

Friedrich Schiller

Sind das wirklich Schillers Verse, die in hohem Ton (und in Überdehnung grammatischer Freiheit) die hauswirtschaftlichen Fähigkeiten der Frauen besingen? Es ist in der Tat die erste Strophe von Schillers "Würde der Frauen", allerdings war ich so frei, die Verse in umgekehrte Reihenfolge zu setzten. Bevor Sie erfahren, weshalb ich das gemacht habe, lesen Sie zuerst die ersten beiden Strophen des Originals:

Ehret die Frauen! sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben,
Flechten der Liebe beglückendes Band,
Und in der Grazie züchtigem Schleier
Nähren sie wachsam das ewige Feuer
Schöner Gefühle mit heiliger Hand.

Ewig aus der Wahrheit Schranken
Schweift des Mannes wilde Kraft,
Unstet treiben die Gedanken
Auf dem Meer der Leidenschaft.
Gierig greift er in die Ferne,
Nimmer wird sein Herz gestillt,
Rastlos durch entlegne Sterne
Jagt er seines Traumes Bild.

Das Wechselspiel von Lob der weiblichen Anmut, Güte, Häuslichkeit und Tadel männlicher Roheit, Gewalt, Rastlosigkeit setzt sich in den weiteren Strophen fort. Dem im Musenalmanach für das Jahr 1796 erschienenen Gedicht wurde nicht nur Anerkennung zuteil, vor allem das Besingen eines engen, bürgerlichen Frauenbildes in so hohem, pathetischem Ton rief Kritik und Spott hervor. Besonders vom Romantikerkreis um die Gebrüder Schlegel sind etliche negative Wertungen überliefert. So erkannte Friedrich Schlegel in einer Rezension der Schillerschen Dichtung: "Doch gewinnt sie, wenn man das Ganze strophenweise rückwärts liest".

Schiller antwortete auf diese Kritik in den gemeinsam mit Goethe herausgegebenen "Xenien" mit den Worten:

Vorn herein liest sich das Lied nicht zum besten, ich les' es von hinten,
Strophe für Strophe, und so nimmt es ganz artig sich aus.

und sandte dem jungen Schlegel das ihm zugedachte "Geschenk":

Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren -
Ach, was haben die Herren doch für ein kurzes Gedärm!

Auch die Schlegels sind Schiller letztlich nichts schuldig geblieben. Im Jahre 1846 wurde aus dem Nachlass von Friedrich Schlegels Bruder August Wilhelm (der übrigens ab 1818 Professor für Literatur an der Uni Bonn war) folgende berühmt gewordene Parodie veröffentlicht:

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe
Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken zerissene Pantalons aus;
Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte
Find't am Zarten nicht Geschmack.
Zum gegornen Gerstensafte
Raucht er immerfort Tabak;
Brummt, wie Bären an der Kette,
Knufft die Kinder spat und fruh;
Und dem Weibchen nachts im Bette,
Kehrt er gleich den Rücken zu.

Wie auch "Das Lied von der Glocke" war Schillers "Würde der Frauen" mehrfach Vorlage für (unglücklicherweise nicht nur) parodistische Nachahmungen. So wird in der 1840 anonym erschienenen "Würde der Schneider" die Vorzüge des Schneiderhandwerks abwechselnd mit den Unzulänglichkeiten des Schusters, Fleischers, Tischlers etc. verglichen. Da das Gedicht sich auch in einigen heutigen Parodiensammlungen befindet (z. B. in "Deutsche Lyrikparodien", Reclam), sind hier nur die ersten beiden Strophen abgedruckt:

Ehret die Schneider, sie nähen und schaffen,
Himmlische Kleider für irdische Laffen,
Flechten der Mode beglückendes Band.
Decken die Mäntel mit Werg und mit Watte
Wo die Natur nur Äsopenform hatte;
Schaffen Apolle mit kundiger Hand.

Ewig in des Leders Schranken
Tummelt Schuster seine Kraft
Ledern werden die Gedanken
Und das Herz zum Stiefelschaft.
Hastig greift er nach dem Riemen,
Wenn der Junge schlecht gepicht;
Rastlos bohrt er mit dem Pfriemen,
Bis der Pechdraht Nähte flicht.

Bevor ich nun den Leser verabschiede (falls er es nicht schon längst selber getan), möchte ich ganz unbescheiden auf meine eigene, bescheidene Parodie hinweisen. Wenn sie auch sonst zu nichts nütze ist, beweist sie doch, daß es immer noch unterhaltsamer ist, Klassiker zu parodieren als moderne Poesie (siehe hier), sei letztere nun konkret oder abstrakt, schon obsolet und abgef...:

Wert der Sätze

Lehret die Sätze! Erst sie sind's, die geben
den Theorien ihren Inhalt, ihr Leben.
Sind sie dem Schüler genügend bekannt,
löset er damit die alten Probleme,
findet vielleicht sogar neu Theoreme,
werden die Sätze mit Vorsicht verwandt.

Ewig aus der Wahrheit Schranken
hat manch Aussage gebracht,
wer sich keinerlei Gedanken
zur Voraussetzung gemacht.
Denn des Gegenbeispiels Tücke,
von Scholaren oft verkannt,
drängt in des Beweises Lücke
offenbarend uns den Tand.

Veröffentlicht in:

HängeMathe Nr. 21

Januar 2003

Entstehungsdatum

Oktober 2002